Neuerungen bei der IEC 60664 – Isolationskoordination für Niederspannungseinrichtungen
DC-Anwendungen wie große Solarenergie-Anlagen, die Elektrifizierung des Verkehrs, die zahlreich neu gebauten Rechenzentren und die Verfügbarkeit von Wide Gap Band Transistoren zur Leistungssteuerung erzeugen auch Veränderungsbedarf in den Normengrundlagen. Die IEC 60664-1:2020 spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sehr viele Geräte und Produktnormen beziehen sich schlußendlich auf sie.
Als Grundnorm legt die IEC 60664 die Mindestanforderungen an Luft- und Kriechstrecken sowie feste Isolierungen fest. Sie gilt für Niederspannungen bis 1.000 VAC und 1.500 VDC und wurde in den letzten Jahren um Details im Bereich der Gleichspannungsbelastung von Isolationswerkstoffen erweitert. Insbesondere erwähnenswert ist das im Mai 2025 veröffentlichte Amendment 1 (AMD1:2025).
Wichtigste Neuerungen (incl. AMD1:2025)
- Neustrukturierung: Die Abschnitte (4 und 5), die sich mit den Grundsätzen für die Bemessung von Luft- und Kriechstrecken befassen, wurden neu strukturiert. Dies soll die Lesbarkeit und die logische Abfolge der Schritte bei der Bemessung verbessern.
- Verbesserte Anleitungen: Die Norm wurde nach 2020 um neue Anhänge ergänzt, die die Anwendung der Norm erleichtern: Anhang G enthält ein Flussdiagramm für die Bemessung von Luftstrecken. Anhang H enthält ein Flussdiagramm für die Bemessung von Kriechstrecken. Anhang I erläutert die Wirkung der elektrochemischen Migration unter Gleichspannungseinwirkung und den Effekt auf Kriechstrecken.
- Aktualisierung der Höhenkorrektur: Die Korrekturfaktoren für Luftstrecken bei einer Höhe über 2.000 m wurden in einer neuen Tabelle (Tabelle F.10) aktualisiert, um präzisere Berechnungen zu ermöglichen.
- Ergänzung 1.500 VDC: In den Tabellen des Annex B und F wurde dieser Wert eingefügt.
- Ergänzungen im Bereich der Frequenz: Erweiterung und Berücksichtigung der Wellenform der Wechselspannung durch Verweis auf IEC 60664-4
- Neue Definitionen: Es wurden neue Begriffe und Definitionen hinzugefügt, um die Verständlichkeit und Eindeutigkeit der Norm zu erhöhen.
- Anwendungsleitfaden: Vor längerem schon wurde ein Hinweis auf die IEC TR 60664-2-1 eingefügt. Dieses Dokument beschreibt ausführlich und sehr informativ anhand von Beispielen die Anwendung der Norm. Mit 365 EUR nicht gerade günstig, aber insbesondere für Neueinsteiger in den Themenbereich Isolation absolut lohnend (z.B. VDE-Verlag.de)
Diese Änderungen zielen darauf ab, die Norm an die wachsenden Anforderungen moderner elektrischer Systeme anzupassen und die Sicherheit in Niederspannungsanlagen weiter zu gewährleisten. Sie sind auch ein Beweis, dass die Normung und Normenarbeit wichtig ist und von der Mitarbeit aller Akteure am Markt lebt (Prüfinstitute, Hersteller, Anwender).
Ergänzung Bestimmung von Luft- und Kriechstrecke:
Die ganz kurze Erläuterung, wie man zu den passenden Luft- und Kriechstrecken kommt
Die Bemessung von Luft- und Kriechstrecken nach IEC 60664 gewährleistet die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Isolation unter verschiedenen Betriebsbedingungen.
1. Bemessung der Luftstrecken
Die Luftstrecke ist der kürzeste Weg durch Luft zwischen zwei leitfähigen Teilen. Sie muss so bemessen sein, dass es auch bei transienten Überspannungen zu keinem Spannungsüberschlag kommt.
- Schritt 1: Bestimmung der Nennspannung und Überspannungskategorie
Ermitteln Sie die Nennspannung (Unominal) der Anlage und die Überspannungskategorie des Betriebsmittels. Die Überspannungskategorie (I bis IV) beschreibt die Höhe der zu erwartenden transienten Überspannungen.
- Schritt 2: Ermittlung der Bemessungsstoßspannung
Bestimmen Sie die Bemessungsstoßspannung (Uimp) anhand der Nennspannung und der Überspannungskategorie aus den entsprechenden Tabellen der Norm.
- Schritt 3: Bemessung der Luftstrecke
Die Mindestluftstrecke wird nun aus der Bemessungsstoßspannung in der dafür vorgesehenen Tabelle der Norm abgelesen.
- Schritt 4: Korrektur für Höhe
Falls das Betriebsmittel in einer Höhe von über 2.000 m über dem Meeresspiegel betrieben wird, ist ein Korrekturfaktor anzuwenden. Der Luftabstand muss mit dem entsprechenden Faktor aus der Tabelle F.10 multipliziert werden.
2. Bemessung der Kriechstrecken
Die Kriechstrecke ist der kürzeste Weg entlang der Oberfläche eines Isolierstoffes zwischen zwei leitfähigen Teilen. Sie muss ausreichend bemessen sein, um Kriechwegbildung und die Zerstörung der Isolation zu verhindern.
- Schritt 1: Bestimmung der Nennspannung und des Verschmutzungsgrades
Ermitteln Sie die Nennspannung (Unom) und den Verschmutzungsgrad (1 bis 4) der Umgebung, in der das Betriebsmittel eingesetzt wird. Der Verschmutzungsgrad beschreibt die Leitfähigkeit der Umgebung.
- Schritt 2: Ermittlung der Materialgruppe
Bestimmen Sie die Materialgruppe (I, II, IIIa, IIIb) des verwendeten Isolierstoffes. Diese wird durch den Kriechstromfestigkeitsindex (CTI-Wert) des Materials bestimmt.
- Schritt 3: Bemessung der Kriechstrecke
Die Mindestkriechstrecke kann nun aus der entsprechenden Tabelle in der Norm abgelesen werden. Dabei werden die Nennspannung, der Verschmutzungsgrad und die Materialgruppe berücksichtigt. Mindestanforderungen an Gräben, Spalten und Barrieren zur Verlängerung des Kriechweges sind definiert.
- Schritt 4: Anpassung bei sehr hohen Frequenzen
Für Anwendungen mit Frequenzen über 30 kHz kann es unter bestimmten Bedingungen zulässig sein, die Mindestkriechstrecke zu reduzieren. Dieser Fall ist in den Anhängen der Norm speziell geregelt.
Die Bemessung beider Abstände, also der Luftstrecke und der Kriechstrecke, dient dem Schutz vor unterschiedlichen Fehlermechanismen:
- Luftstrecke: Schützt vor Überspannungen, die einen Durchschlag (Blitzüberschlag) durch die Luft verursachen können. Der Mindestabstand hier hängt von der Höhe der auftretenden Stoßspannung ab.
- Kriechstrecke: Schützt vor der Bildung eines leitfähigen Pfades (Kriechwegbildung) auf der Oberfläche eines Isolierstoffes, der durch Verschmutzung und Feuchtigkeit entstehen kann. Der Mindestabstand hier ist abhängig vom Verschmutzungsgrad und der Kriechstromfestigkeit des Materials.
Da beide Risiken – der Überschlag durch die Luft und die Kriechwegbildung auf der Oberfläche – unabhängig voneinander auftreten können, muss im Ergebniss der Berechnungen der endgültige Abstand so gewählt werden, dass er beiden Anforderungen gerecht wird. Wenn beispielsweise die berechnete Kriechstrecke 5 mm und die Luftstrecke 4 mm beträgt, muss der konstruktive Abstand mindestens 5 mm betragen, um die geforderte Isolationskoordination zu erfüllen.