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Die Bemessung der Luft- und Kriechstrecken - Vorgehen nach IEC 60664 an zwei Beispielen.

Für die Bemessung von Luft- und Kriechstrecken bei der Entwicklung von elektrischen/elektronischen Schaltungen und Einrichtungen müssen bestimmte Normen beachtet werden, um die Produktsicherheit und die Vermeidung von elektrischen Kurzschlüssen oder Störlichtbögen zu gewährleisten. Die Bemessung richtet sich in erster Linie nach dem Schutz gegen elektrischen Schlag gemäß der Grundnorm DIN EN 60664-1 (VDE 0110-1). Die folgenden Schritte sind nach der Sicherheitsnorm für die korrekte Bemessung erforderlich: 

Bemessung von Luftstrecken 

Wie bei den anderen Bemessungsgrößen auch, finden sich in der Norm entsprechende Tabellen, die eine Abhängigkeit zwischen Größe (z.B. Spannung, Verschmutzungsgrad) und erforderlichen Abständen herstellen.

  1. Bemessungs-Stoßspannung Uimp: Die Bemessungs-Stoßspannung muss zunächst bestimmt werden. Sie ist von der Nennspannung der Anlage und der Überspannungskategorie abhängig, die die Häufigkeit und Stärke der zu erwartenden transienten Überspannungen (z. B. durch Blitzeinschläge oder Schaltvorgänge) angibt. Überspannungskategorie I (OVC I) beschreibt die niedrigste Stoßspannungsanforderung. Sie gilt für Geräte, die nicht direkt am Niederspannungsnetz angeschlossen sind oder deren interne Schaltungen durch zusätzliche Schutzmaßnahmen gegen Überspannungen geschützt sind. Das können zum Beispiel Geräte sein, die über einen separaten Trenntransformator oder ein externes Netzteil betrieben werden. Ebenfalls können lange Anschlußkabel die Spannungsspitzen dämpfen, da der Leitungswiderstand und die Induktivität des Kabels als natürliche Dämpfung wirken. Ein klassisches Beispiel sind Geräte mit geringem Stromverbrauch, die über einen externen Netzadapter versorgt werden, wie z.B. Laptops, Telefone oder Netzwerk-Switches. Überspannungskategorie II (OVC II): Gilt für Geräte, die direkt an die Netzinstallation angeschlossen werden. Typische Haushaltsgeräte fallen in diese Kategorie. Überspannungskategorie III (OVC III): Gilt für Geräte, die fest an die Gebäudeinstallation angeschlossen sind. Dazu gehören Verteilerkästen, Sicherungen oder Leitungsschutzschalter. Überspannungskategorie IV (OVC IV): Gilt für Geräte, die am Speisepunkt der Installation (z. B. am Hauptanschluss des Gebäudes) angebracht sind. Dies ist die höchste Kategorie mit den größten zu erwartenden Stoßspannungen.
  2. Verschmutzungsgrad (Pollution Degree): Der Verschmutzungsgrad berücksichtigt die Umgebungsbedingungen und die Wahrscheinlichkeit, dass leitfähige Verunreinigungen die Luftstrecke überbrücken können. Verschmutzungsgrad 1: Es gibt keine leitfähige Verschmutzung oder es tritt nur trockene, nicht leitfähige Verschmutzung auf. Verschmutzungsgrad 2: Nur nicht leitfähige Verunreinigungen treten auf, jedoch kann zeitweise eine Leitfähigkeit durch Kondensation erwartet werden. Dies ist der häufigste Fall für Haushaltsgeräte und Büroumgebungen. Verschmutzungsgrad 3: Es treten leitfähige Verunreinigungen auf oder trockene, nicht leitfähige Verunreinigungen, die durch Kondensation leitfähig werden. Verschmutzungsgrad 4: Die Verunreinigungen sind ständig leitfähig, z. B. durch Staub, Regen oder Schnee.
  3. Luftstreckenabstand: Mit der ermittelten Bemessungs-Stoßspannung und dem Verschmutzungsgrad kann aus den Tabellen der Norm DIN EN 60664-1 der Mindestabstand für die Luftstrecke abgelesen werden.

Bemessung von Kriechstrecken 

Kriechstrecken bezeichnen den geringsten Abstand zwischen zwei elektrischen Leitern unterschiedlicher Polarität über die Oberfläche eines Isolators. Da hier die relativ geringe Spannungsfestigkeit der Luft zusammen trifft mit möglichen Veränderungen auf der Oberfläche des Isolators (Verschmutzung, chemische Änderungen durch Bildung leitfähiger Pfade), sind diese Abstände vor allem für das langfristige Funktionieren der Isolationsstrecke wichtig.

  1. Betriebsspannung: Die Bemessung der Kriechstrecke basiert auf der effektiven Betriebsspannung (RMS-Wert) oder der Gleichspannung.
  2. Verschmutzungsgrad: Der gleiche Verschmutzungsgrad wie bei der Bemessung der Luftstrecke wird auch hier verwendet.
  3. Materialgruppe (Comparative Tracking Index, CTI): Die Kriechstrecke hängt stark von den Isolationseigenschaften des verwendeten Materials ab. Der CTI-Wert gibt die Widerstandsfähigkeit eines Materials gegenüber Kriechströmen unter Einwirkung von elektrischer Spannung und leitfähiger Verunreinigung an. Materialgruppe I: CTI ≥ 600 Materialgruppe II: 400 ≤ CTI < 600 Materialgruppe IIIa: 175 ≤ CTI < 400 (häufigstes Material für Leiterplatten, z. B. FR-4) Materialgruppe IIIb: 100 ≤ CTI < 175
  4. Kriechstreckenabstand: Mit den Werten für die Betriebsspannung, den Verschmutzungsgrad und die Materialgruppe kann aus den Tabellen der Norm der erforderliche Mindestabstand für die Kriechstrecke bestimmt werden.

Beispiel: Bemessung für 690 V in Windkraftanlagen 

In diesem Beispiel soll angenommen werden, dass eine elektronische Schaltung im Inneren eines Winkraftanlagenturms mit 690V betrieben wird und ein FR-4-Leiterplattenmaterial verwendet wird. Als Beispiel könnte die Frequenzumrichterstation im Turm einer Windkraftanlage dienen.

  • Betriebsspannung: 690 V AC
  • Überspannungskategorie: OVC III (feste Installation + Blitzeinschlaggefahr)
  • Verschmutzungsgrad: 3 (starke Temperaturschwankungen, Kondensation, Staub)
  • Materialgruppe: IIIa (typisch für FR-4)

1. Luftstrecke (Clearance)

Um die Luftstrecke zu bestimmen, benötigen wir die Bemessungs-Stoßspannung Uimp. Aus den Tabellen der DIN EN 60664-1 ergibt sich für eine Betriebsspannung von 690 V und Überspannungskategorie III eine Stoßspannung von 6 kV. Mit einem Verschmutzungsgrad 3 ergibt sich aus der entsprechenden Tabelle der Norm ein Mindestabstand von 5,5 mm für die Luftstrecke.

2. Kriechstrecke (Creepage)

Die Kriechstrecke bemisst sich nach der Betriebsspannung und dem Material. Für eine Betriebsspannung von 690 V und einen Verschmutzungsgrad 3 bei Materialgruppe IIIa ergibt sich aus den entsprechenden Tabellen der Norm DIN EN 60664-1 ein Mindestabstand von 10 mm für die Kriechstrecke.

Für die elektronischen Komponenten, die im Turm oder in der Gondel einer Windkraftanlage verbaut sind, ergeben sich folgende Mindestabstände (für 690V):

  • Luftstrecke (Clearance): 5,5 mm
  • Kriechstrecke (Creepage): 10 mm

In der Praxis ist der größere der beiden Werte für die Bemessung ausschlaggebend. Somit müssen alle Hochvolt-Komponenten und Leiterbahnen in diesem Beispiel einen Mindestabstand von 10 mm zueinander aufweisen. Diese strengeren Anforderungen im Vergleich zu Haushaltsgeräten sind notwendig, um die Zuverlässigkeit und Sicherheit unter den rauen Umgebungsbedingungen und bei den hohen Spannungen einer Windkraftanlage zu gewährleisten.

Der komplexere Fall: Isolationsstrecken in Hochvolt-Fahrzeugen 

Im Bereich von Elektrofahrzeugen mit 800 VDC sind die Bemessungen für Luft- und Kriechstrecken kritisch, da hier spezielle Umgebungs- und Sicherheitsanforderungen gelten, die über die typischen Anwendungen in Gebäuden hinausgehen. Die Normen DIN EN 60664-1 und ISO 6469-3 legen die Grundlagen für diese Sicherheitsbemessungen. Dennoch bleibt die grundlegende Vorgehensweise gleich.

Bemessung von Luftstrecken 

  1. Bemessungs-Stoßspannung Uimp: Für die internen Hochvolt-Systeme eines Elektrofahrzeugs ist die Stoßspannung maßgeblich. Da das System im Fahrzeug eine isolierte Einheit (sog. IT-System) ist und nicht direkt an das öffentliche Niederspannungsnetz angeschlossen wird, liegt die Einstufung oft bei Überspannungskategorie I (OVC I). Dies gilt, wenn die internen Schaltungen durch die Konstruktion und die Abkapselung des Systems (z. B. im Hochvoltbatteriegehäuse) effektiv gegen äußere Überspannungen geschützt sind. Die Bemessungs-Stoßspannung für ein 800 VDC-System mit OVC I ist geringer als bei höheren Kategorien. Wenn das Fahrzeug lädt, können die HV-Anschlüsse jedoch höheren Stoßspannungen ausgesetzt sein.
  2. Verschmutzungsgrad (Pollution Degree): Dieser ist in einem Elektrofahrzeug komplexer als in einer stationären Umgebung. Verschmutzungsgrad 2 wird oft für interne Komponenten angenommen, die sich im geschützten Innenraum befinden. Hierbei geht man davon aus, dass es nur zu nicht leitfähiger Verschmutzung kommt, die durch Kondensation zeitweise leitfähig werden kann (z.B. im Steuergerät). Verschmutzungsgrad 3 oder 4 muss für Komponenten berücksichtigt werden, die leitfähigem Staub, Feuchtigkeit oder Salznebel ausgesetzt sein können, wie z.B. Teile des Hochvolt-Systems, die im Motorraum oder unter dem Fahrzeug verbaut sind. Diese Verschmutzungsgrade wird man versuchen, durch Kapselung, Verguß oder andere Maßnahmen zu vermeiden, das sie auch bei ausreichender Abstandswahl ein Sicherheitsrisiko bedeuten.
  3. Luftstreckenabstand: Basierend auf einer angenommenen Bemessungs-Stoßspannung für OVC I (z.B. 1,5 kV bis 2,5 kV, je nach genauer Systemarchitektur und Schutzmaßnahmen) und einem Verschmutzungsgrad 2, ergibt sich aus den Tabellen der DIN EN 60664-1 ein Mindestabstand von ~1,5 mm bis 2,5 mm. Bei externen, stärker exponierten Teilen mit Verschmutzungsgrad 3 oder 4 wären die Abstände deutlich größer.

Bemessung von Kriechstrecken 

  1. Betriebsspannung: Die Betriebsspannung ist 800 V DC.
  2. Verschmutzungsgrad: Wie bei der Luftstrecke hängt dies vom Einbauort ab. Für die Steuerplatinen im Inneren wird Verschmutzungsgrad 2 angenommen. Für exponierte Teile wird Verschmutzungsgrad 3 oder 4 angenommen (wird meist durch Kapselung oder Verguß vermieden).
  3. Materialgruppe (CTI): Für die Hochvolt-Leiterplatten in Elektrofahrzeugen wird typischerweise ein FR-4-Material verwendet, das der Materialgruppe IIIa (175 ≤ CTI < 400) angehört. Bei kritischen Anwendungen kann auch ein Material mit höherem CTI-Wert verwendet werden.
  4. Kriechstreckenabstand: Die Bemessung nach DIN EN 60664-1 für eine Betriebsspannung von 800 VDC mit Verschmutzungsgrad 2 und Materialgruppe IIIa ergibt einen Mindestabstand von 5 mm. Bei einer erhöhten Verschmutzung (Grad 3) würde sich dieser Abstand ebenfalls erhöhen, was spezielle Konstruktionsmaßnahmen wie Vergussmasse, Abdeckungen oder Rippen auf der Leiterplatte erforderlich macht. Üblicherweise wird man diesen Verschmutzungsgrad jedoch grundsätzlich versuchen zu vermeiden.

Zusammenfassung

Für ein typisches 800 VDC-System in einem Elektrofahrzeug, bei dem die Hochvolt-Elektronik in einem geschützten Gehäuse verbaut ist, ergeben sich folgende Mindestabstände:

  • Luftstrecke: Je nach Schutzgrad und angenommener Überspannungskategorie I können dies ca. 1,5 mm bis 2,5 mm sein.
  • Kriechstrecke: Für das am häufigsten verwendete Leiterplattenmaterial und einen Verschmutzungsgrad 2 beträgt der Mindestabstand 5 mm.

In der Praxis dominiert die Kriechstrecke die Bemessung, da sie mit 5 mm den größeren Abstand fordert. Die genauen Werte können je nach den spezifischen Sicherheitsanforderungen und der Risikobewertung des Fahrzeugherstellers zusätzlich variieren.

Neben diesen Anforderungen aus der Isolationskoordinationsnorm IEC 60664 kommen meist weitere Anforderungen aus der Anwendung selbst. Dies sind oft eine geringe Entflammbarkeit, eine gute Temperaturbeständigkeit (oft -40°C bis +150°C), natürlich eine hohe Spannungsfestigkeit und eine zur Anwendung passende Verarbeitbarkeit. Passende Produkte reichen von einfachen Isolationspapieren über Hochleistungs-Aramidpapier bis zu Isolationsfolien aus den verschiedenen Polyolefinen oder Hochleistungswerkstoffen wie PPSU, PEI, PI oder PEEK sowie Glasgeweben.

Hinweis: Genaue Zahlen und die Berücksichtigung zusätzlicher Anforderungen bitte der Norm selbst entnehmen. Zum Schutz der ehrenamtlichen Arbeit zahlloser Normungsmitarbeiter und der Finanzierung der Arbeit aus den Einnahmen des Normenverkaufs verzichte ich auf genauere Auszüge aus der Norm. Wer mitarbeiten möchte, kann sich an das DKE, den ZVEI, den VDE oder direkt an die IEC wenden.